Propheten im Alten Testament –

oder von der Bedeutung der Kritik ...

 

Das Prophetentum ist für die alttestamentliche Offenbarungsreligion dermassen bedeutsam, dass diese bisweilen als "prophetische Religion" bezeichnet wird.

Aus christlicher Perspektive wurde während langer Zeit die Messiasverheissung in den Vordergrund gerückt. Verschiedene Propheten sprachen immer wieder davon, dass Leid und Dunkel dieser Welt einst ein Ende haben würden. Sie sprachen davon, dass einst ein Messias "Gesandter Gottes" auftauchen werde, der dieses "Volk, das im Dunkeln wandert" (Jeremia) wieder zu Grösse und Selbstbewusstsein führen würde. – Wer jedoch die Propheten nur unter der Perspektive der Ankündigung Jesu versteht, verkürzt ihre Bedeutung in unzulässiger Weise. Das Alte Testament ist ein eigenständiges Buch und keineswegs nur als Vorstufe zum Neuen Testament zu verstehen.

 

Was ist gemeint mit "Nabi" (Prophet)?

Der Name Nabi wird im Alten Testament für verschiedene Prophetentypen verwendet:

  • Sogenannte Prophetensöhne: Mitglieder einer prophetischen Genossenschaft oder Gilde. Wir erfahren von drei solcher Gruppen, deren Häupter Samuel, Elija und Elischa genannt werden. Auf Anfrage werden diese Prophetensöhne als Heiler oder Wahrsager tätig und mischen sich auch in die Politik ein.
  • Tempelpropheten: Sie gehören neben den Priestern zum Personal eines Tempels und üben ihr Amt haupt- oder nebenamtlich aus. Sie haben den Auftrag einzelnen Menschen oder auch im Gottesdienst grösseren Gruppen verheissende, ermahnende oder tröstende Worte zu verkünden.
  • Freie Propheten: Zahlenmässig sind sie in der Minderheit. Dennoch bilden sie die bedeutendste Gruppe. Fast alle Schriftpropheten des Alten Testaments gehören zu dieser dritten Gruppe. Sie sind nicht Berufspropheten, sondern sie wurden aufgrund einer besonderen Berufung aus ihrem ursprünglichen Beruf herausgerissen. Sie sind somit nicht Glieder eines Stammes, eines Standes, nicht Beamte des Königs oder eines Tempels, sondern wissen sich als Vertreter und Botschafter ihres Gottes.

Damit wird deutlich, dass zur Zeit des Alten Testaments die Propheten völlig selbstverständlich zur Gesellschaft gehörten. Sie waren anerkannt – vergleichbar mit heutigen Lehrer/-innen, Cabarettist/-innen, Kommentator/-innen von Zeitungen, Zeitschriften usw.

Beim Wort "Nabi" denken die alttestamentlichen Menschen allerdings zunächst an die Berufspropheten, vor allem die Tempelpropheten. Neben ihnen treten grosse Einzelpropheten nur vereinzelt und teilweise in grossen Abständen in Erscheinung.

 

Aufnahme der Schriften in die Bibel

Erst im Rückblick, in der Zeit des babylonischen Exils, gewinnen (aufgrund der vorausgesagten und tatsächlich eingetretenen Katastrophe) die Schriften der freien Propheten an Bedeutung. Die beschwichtigenden Worte vieler Berufspropheten hingegen haben sich als verhängnisvoll erwiesen.

Immer mehr gelangte das jüdische Volk zur Auffassung, dass den Schriften der Propheten so grosse Bedeutung zukomme, dass diese gesammelt werden und der Bibel (also den 5 Büchern Mose) zugefügt werden müssten. Noch zur Zeit Jesu allerdings bestehen beispielsweise die Sadduzäer darauf, dass die Propheten nicht zur Bibel gehören sollten. Und erst an der Synode von Jamnia im Jahr 105 n.Chr. wurde nach langen Auseinandersetzungen für das Judentum gültig entschieden, dass die Prophetenschriften zur Bibel gehörten.

Dass die Prophetenbücher in die Bibel aufgenommen wurden, zeigt, welch grosse Achtung man (allerdings in der Regel erst im Nachhinein) vor diesen unbequemen Boten Gottes hatte, gehörten doch ihre Worte zu den kirchen-, kult- und gesellschaftskritischsten Texten überhaupt.

 

Zur Aufgabe der Propheten

Den Propheten wurden damals die verschiedensten Aufgaben zugewiesen: Man erhoffte sich Hilfe in Problemen des Alltags und Beratung für das religiöse oder politische Leben; Propheten dienten Königen als Berater und sie wurden von religiösen Gemeinschaften eingesetzt, um Gottes Willen zu erkunden und mitzuteilen.

Den angestellten, "beamteten", Propheten wurde nicht selten zum Verhängnis, dass sie es nicht wagten, ihren Auftraggebern gegenüber Kritik zu äussern. Deshalb wurden sie von den freien Propheten oft heftig kritisiert. Letztere, die freien Propheten, bildeten die unabhängigste Gruppe. Sie fühlten sich niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig; sie hatten im Gegensatz zu den angestellten Propheten in der Regel auch keine wirtschaftliche Sicherheit zu verlieren.

Zum ihrem Selbstverständnis gehörte, dass sie sich durch weltliche oder kirchliche Autoritäten nicht mundtot machen liessen. Sie verkündeten unbeirrt, was sie zu sagen hatten. Sie befassten sich mit allen Bereichen der Gesellschaft, mit dem Verhalten des Volkes wie auch der Repräsentanten der Macht. Und sehr häufig kritisieren sie auch die religiösen Traditionen, kirchlichen Bräuche und das religiöse Establishment. Als Boten dieses Gottes Jahwe traten sie unerschrocken und mit höchster Autorität auf - gegenüber weltlichen oder kirchlichen Autoritäten oder gegenüber dem Volk. – Dies ist die eigentliche Aufgabe der Propheten: Den Anspruch Gottes in dieser Welt deutlich machen.

Propheten geben damit auch immer einen Einblick ins damalige Alltagsleben. Aufgrund ihrer Kritikpunkte erfahren wir, über welche Fragen damals diskutiert wurde und wo die grossen Auseinandersetzungen stattfanden.

 

Bedeutung der Kritik – damals und heute

Genau in diesem Zusammenhang ist die Auseinandersetzung mit Propheten von Bedeutung. Die Kirche hat mit der Aufnahme dieser Bücher die Kritik in ihre eigene heilige Schrift aufgenommen. Bis heute muss sich kirchliche und christliche Praxis immer wieder mit diesen Massstäben messen lassen.

Dies weist darauf hin, wie wichtig es für ein System, eine Gruppe, eine Organisation ist, kritische Stimmen auch zuzulassen. – Moderne Demokratien haben dazu verschiedene Grundrechte garantiert: Meinungsäusserungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Petitionsrecht usw. All dies soll garantieren, dass Kritik an den Institutionen des Staates möglich ist.

All dies sind jedoch Rechte und Freiheiten, die der antike Staat nicht kennt. Prophetisches Reden und Handeln hatte ein Stück weit diese Funktion.

Die Auseinandersetzung mit Propheten, ihrem Auftrag, ihrer Stellung und ihrer Botschaft kann das Bewusstsein für diese Bedeutung der Kritik schärfen.

 

Propheten als Zukunftsdeuter?

An dieser Stelle muss auch ein weitverbreitetes Missverständnis geklärt werden. Sprechen wir heute von Propheten, so denken viele vor allem an die Zukunftsdeutung. Gewiss machen viele alttestamentliche Propheten auch Aussagen zur Zukunft.

Zu allen Zeiten war es auch immer der Wunsch der Menschen, die Ungewissheit der Zukunft ein Stück zu reduzieren. Heute leben ganze Wirtschaftszweige davon, dass sie etwas über die künftige Welt und künftige Entwicklungen sagen können oder diese Unsicherheit reduzieren (Versicherungswirtschaft, Vorsorge- und Anlageberatung, Zukunftsforschung, ...). Zu allen Zeiten wurden zu diesem Zweck auch seriöse Methoden genauso wie Scharlatanerie bemüht. Im Altertum suchte man Seher, Orakelpriester, Ekstatiker oder Propheten auf. Wer tatsächlich verlässlich war, merkte man (schon damals...) in der Regel erst im Nachhinein.

Ihre primäre Zielrichtung ist allerdings nicht der Blick in die Zukunft! Propheten sind zunächst scharfe Beobachter/innen der Gegenwart. Sie blicken genau hin. Aus dieser "Situationsanalyse" folgern oder erkennen sie, wohin dieser Weg führen wird. Dies ist denn auch der Hintergrund, weshalb die Propheten in die Zukunft "blicken". Es geht also nicht um Wahrsagerei, sondern darum, dass Propheten beobachten, in welche Richtung sich die Gesellschaft bewegt – und diesen Weg weiterdenken. Auch wenn sie also von der Zukunft sprechen, so wollen sie nicht primär eine Aussage über die Zukunft machen, sondern sie machen eine Aussage in die Gegenwart hinein. – Sie wollen ihren Zeitgenossen/innen etwas sagen.

Zudem wird oft verkannt, dass die biblischen Prophetenbücher keine Augenzeugenberichte sind, sondern stets viel später aufgeschrieben wurden (als die vorausgesagten Ereignisse längst eingetroffen waren). Zudem gibt es verschiedene Prophetensprüche oder -bücher, die gar keinen historischen Hintergrund haben.

Zur Sprache der Propheten

Dass sich die Propheten als Vertreter des Gottes Jahwe verstehen, wird durch ihre Sprache deutlich. Sie treten mit der Vollmacht eines königlichen Gesandten auf. Wörtlich werden dieselben Formulierungen verwendet. So lauteten beispielsweise typische Eröffnungen von solchen Mitteilungen:

"So spricht der König von Assur. Trefft mit mir ein Abkommen..."

"So spricht König Hiskija: Heute ist ..."

Und beim Propheten Jesaja tönt es dann:

"So spricht der Herr: Fürchte dich nicht wegen der Worte, die du gehört hast und ..." (2 Kön 19,6f.)

Diese Formulierung macht deutlich: Der Prophet versteht sich als Bote. Er bringt nicht die eigene Botschaft, sondern überbringt die Botschaft des einen Gottes Jahwe. – Mit dieser Formulierung macht der Prophet jedoch auch deutlich: "Ich spreche mit der Autorität Gottes. Wenn Ihr den Worten nicht folgt, richtet sich dies nicht gegen mich, sondern gegen Gott."

 

Didaktische Hinweise:

Was bringt es, sich mit Gestalten auseinanderzusetzen, die vor über 2000 Jahren in einer fernen Kultur von Bedeutung waren? – Der Lehrplan setzt verschiedene Akzente:

Orientierungswissen

Zunächst geht es um "Orientierungswissen": Wer sich mit der Bibel befasst, kommt um die Propheten nicht herum, weil sie in dieser Tradition eine zentrale Stellung einnehmen. "Biblische Gestalten kennenlernen" nennt dies der Lehrplan. – Ebenfalls zum Orientierungswissen gehört, dass die Kinder erfahren, dass es auch in anderen Religionen Propheten gibt (siehe unter "Thematik in den Lehrmitteln").

"Einblick in Zusammenhänge gewinnen" und "Wertvorstellungen klären"

Von grösserer Bedeutung sind allerdings eine Reihe von weiteren Zielsetzungen, die im wesentlichen den Zielbereichen "Einblick in Zusammenhänge gewinnen", bzw. "Wertvorstellungen klären" zugeordnet werden können.

Kinder sollen erkennen, was Propheten dazu gebracht hat, gegen den Strom zu schwimmen – und was das für sie persönlich bedeutet hat. Dazu ist es wichtig, Propheten vor dem Hintergrund der damaligen wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Umwelt kennenzulernen. Die eigentlichen alttestamentlichen Propheten (Amos, Jesaja, Jeremia) sind darum in der Mittelstufe angesiedelt.

Darüberhinaus geht es darum, Zusammenhänge zur heutigen Welt und möglichst zum konkreten Alltag der Kinder zu finden: Wo ist es heute wichtig, dass sich Menschen für etwas einsetzen, ohne sich beirren zu lassen? Wo ist dies in der eigenen Schulklasse, Familie, Nachbarschaft ... manchmal notwendig?

In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, wo die Grenzen für prophetisches Reden und Wirken liegen. Was darf ein Prophet fordern? Wem dürfen wir heute vertrauen? Und wem nicht? Wie kann man das entdecken? – Solche Fragen müssen im Zusammenhang mit der Thematik gestellt werden.

Das MS-Lehrmittel bringt in den Lebensbildern auch Beispiele von "Prophetinnen und Propheten" aus der jüngeren Vergangenheit: Henry Dunant, Max Daetwyler, Mère Sophie.

Letztlich geht es auch darum, dass sich Kinder mit Kritik und ihrer Bedeutung auseinandersetzen: Warum ist Kritik in jeder Gemeinschaft wichtig? Was nützt sie? Wie können wir Kritik in guter Form anbringen? ...

Auf der Unterstufe gilt lediglich das Jonabuch als Pflicht-Inhalt im Bereich der Propheten. Verwandt mit der Thematik ist das Daniel-Buch. Und sehr empfehlenswert die Unterrichtseinheit "Geburtslegenden grosser Propheten" in Band 2. Mit dieser Einheit werden einerseits Brücken zu anderen Religionen geschlagen. Andererseits werden dadurch auch die Geburtslegenden um Jesus von Nazareth in den richtigen Zusammenhang gestellt.

Thematik in den Lehrmitteln:

Gott hat viele Gesichter:

Band 1:

  • Jona (S. 151ff.).

  • Daniel (135ff.) – Kein Prophet, jedoch von der Thematik her verwandt.

Band 2:

  • Geburtslegenden grosser Propheten (S. 131ff.) – Dabei geht es um: Mose, Buddha, Konfuzius, Jesus, Mohammed

 

Gott hat viele Namen:

Band 1:

  • Jerusalem und die Propheten (2 Varianten ab S. 211.)

Band 2:

  • Lebensbilder (S. 231ff.); wichtig für "Einblicke in Zusammenhänge"

 

B lebend:

  • Gute Unterlagen zu Jeremia. (S. 203ff.)

 

Weitere Literatur:

 

Erzählbuch:

  • Laubi Werner: Geschichten zur Bibel, Band 2, Elia, Amos, Jesaja, Lahr und Düsseldorf 1989.

 

Zur Vertiefung der ganzen Thematik:

  • Bühlmann Walter: Schlüssel zu Gesetz und Propheten, Luzern, 2. Ergänzte Auflage 1992. (Sehr gutes Einführungsbuch zu verschiedenen Themen des Alten Testaments)
  • Wolff Hans Walter: Die Stunde des Amos. Prophetie und Protest, München 1974. (äusserst spannendes und trotz des hohen Alters immer noch hervorragendes und Werk zum Propheten Amos.)
  • Ohler Annemarie: Grundwissen Altes Testament, Band 3, Propheten, Psalmen, Weisheit, Stuttgart 1988. (Vertiefte und gute Grundlagen zu den drei Bereichen.)
  • Rendtorff Rolf: Das Alte Testament. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 31988. Fundierte theologische Einführung ins ganze Alte Testament überhaupt, in einzelne wichtige Themengebiete des AT sowie Hinweise zu Entstehung und Überlieferung aller alttestamtentlichen Bücher.
  • Lohfink Gerhard: Jetzt verstehe ich die Bibel. Ein Sachbuch zur Formkritik, Neuauflage 1992. (Hervorragende und leichtverständliche Einführung in die Formkritik, einer zentralen Arbeitsweise wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit biblischen Texten. Kapitel 2 und 3 darin befassen sich u.a. mit den Propheten Natan und Jona.)